work: Oskar Negt, seit drei Jahren legt der Kapitalismus eine globale Krise hin. Diese Wirtschaftsform zeigt ihre wahnsinnigen Züge. Absurde Finanzwetten. Milliardenboni. Steigende Ungerechtigkeiten. Doch hören die Völker die Signale?

Oskar Negt:
Widerstand regt sich überall. Weltweit. Nur ein Beispiel: Dieser Tage standen in vielen Fabriken des US-Autokonzerns GM die Bänder still, weil beim indischen Zulieferer Rico die Belegschaft streikte. Leider hat die Linke bisher kein umfassendes, attraktives Gegenprojekt mit kräftiger und hörbarer Stimme vorgebracht.

Also machen die Besitzenden, ihre Manager und Politiker weiter, als sei nichts gewesen.
Das hat einen Vorteil. Welchen?

Zum ersten Mal in der Geschichte funktioniert der Kapitalismus genau so, wie ihn Karl Marx beschrieben hat. Das macht für alle sichtbar, welche Probleme dabei liegen geblieben sind. Etwa die Frage, wie es mit dieser Arbeitsgesellschaft weitergehen soll. Sie ist auf das Prinzip der Rationalisierung gebaut. Rationalisierung bedeutet, auf lebendige Arbeitskraft zu verzichten. Oder diese Arbeitskraft so zu zerstückeln, dass die Menschen neben ihrer Arbeit noch Sozialhilfe brauchen. Immer mehr Menschen werden ausgeschlossen. Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt, ein Anschlag auf die körperliche und seelische Integrität der betroffenen Menschen. Dies alles liegt heute offen. Es erzwingt ein radikales Umdenken.

Davon spüren wir wenig. Im Gegenteil: Die Bürgerlichen greifen auch noch die soziale Sicherheit an. Sie betreiben die Abschaffung der Sozialversicherungen. Sie flirten mit einem Arbeitszwang.

Das ist absurd. Der Staat hat als Schutzschild der Banken funktioniert. Jetzt sollen die Arbeitenden dafür bezahlen. Die Plünderung des Sozialstaates geht weiter. Jene, die das fordern, haben eine katastrophale Vorstellung von Gesellschaft. Ohne soziale Sicherheit, ohne Freiheit und Gerechtigkeit zerbricht die Demokratie.

Seltsam, dass in dieser Lage viele Leute eine Partei wie die SVP wählen. Sie predigt Marktfundamentalismus und organisiert die Zerstörung der sozialen Sicherheit.

Seltsam ist das nicht. In Krisen wächst die Angst. Die Menschen vertrauen eher den Starken oder jenen, bei denen sie Stärke vermuten. Im modernen Kapitalismus vergrößert sich dieser Rohstoff Angst ständig. Darum hat die Fremdenfeindlichkeit ein so leichtes Spiel. Auch deshalb braucht es heute starke Gewerkschaften. Sie müssen die Kraft finden, den Leuten die Angst zu nehmen.

Können die Gewerkschaften das?

Ja, aber nur, wenn sie sich grundlegend verändern. Die Gewerkschaften haben in ihrer mehr als 100jährigen Geschichte für die Humanisierung der Lebens- und Arbeitswelt Großes geleistet. Aber heute stehen sie oft mit dem Rücken zur Wand. Die Wirtschaft hat sich neu aufgestellt. Die großen Unternehmen sind zunehmend global und gleichzeitig dezentral organisiert. Immer mehr Menschen arbeiten mit Verträgen auf Zeit, als Scheinselbständige, ohne Zusammenhang einer Belegschaft, flexibilisiert. Im veränderten Kapitalismus genügen blosse Verteidigungskämpfe nicht mehr.

Warum?

Gewerkschaften haben traditionell eine Doppelrolle: Einerseits sind sie ein integrierender Ordnungsfaktor. Andererseits waren sie eine Gegenmacht: Im gewerkschaftlichen Projekt war eine gerechtere Form von Arbeit und Leben angelegt. Doch diese Gegenmacht ist über die Jahrzehnte schwächer geworden. Ich plädiere dafür, dass die Gewerkschaften wieder eine starke Gesellschaftsutopie entwickeln. Sie brauchen Offensivgeist. Eine Vorstellung von einem besseren Ganzen. Sonst werden ihre Waffen immer stumpfer. Wenn sich Gewerkschaften nicht mehr von anderen Wirtschaftsverbänden unterscheiden, verlieren sie ihre Kraftquellen.

Wo ist der Ausweg?

Die Gewerkschaften brauchen eine Doppelstrategie. Zum einen müssen sie in den Betrieben stark bleiben und stärker werden. Aber das allein genügt nicht. Sie sollten sich daran erinnern, dass sie früher auch einen Lebenszusammenhalt, eine Kultur darstellten und ein starkes gemeinsames Projekt zur Emanzipation der Arbeitenden waren. Um diese Kraft zurückzugewinnen, sollten sie ihr Handlungsfeld erweitern. Ich nenne es die Erweiterung des gewerkschaftlichen Mandats.

Eine Ausdehnung der Kampfzonen?

Ja. In vier Bereichen: Erstens müssen sie ihren Begriff von Arbeit erweitern. Lohnarbeit ist nur eine Form der Arbeit. Das klammert zahlreiche Menschen aus, die außerhalb der klassischen Unternehmen arbeiten. Und eine große und schnell wachsende Zahl von Menschen leistet notwendige, aber nicht entlohnte Arbeit. Etwa in der Pflege, in der Erziehung, im Quartier. Zweitens sollten Gewerkschaften Interessenvertreterinnen des gesamten Lebenszusammenhangs werden. Diese Gesellschaft ist reicher denn je, aber ihr Menschenbild wird immer schmaler. Ich nenne es die Erweiterung des Interessenbegriffs der Gewerkschaften.

Früher wurde das im Rahmen einer eigentlichen Arbeiterkultur gelöst.

Das ist Erweiterung Nummer drei: Die Gewerkschaften sollten sich wieder ein kulturelles Mandat geben. Stark sind die Gewerkschaften, wenn sie eine kulturelle Kraft in der Gesellschaft sind. Und da schließt gleich die vierte, schwierigste Erweiterung an, die ich mit dem Entwurf für eine andere Gesellschaft angesprochen habe: Sie werden nicht darum herumkommen, der betriebswirtschaftlichen Ideologie ein neues Bild vom Gemeinwohl entgegenzuhalten.

Viele Gewerkschafter sehen das enger. Sie hoffen einfach auf neues Wachstum. Denn das soll neue Jobs bringen. Ist das falsch?

Früher hieß es: Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. 2010 ist wahr: Die Gewinne von heute sind die Arbeitslosen von morgen.

Das stellt erneut die Frage nach einem besseren Wirtschaftssystem. Doch was können wir sofort tun?

Wir sollten auf ein Grundeinkommen für alle drängen. Das Geld ist da. Es wird nur falsch verteilt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist die einzige vertretbare Form, das Problem in einer Demokratie zu lösen.

Ohne Bedingungen?

Bedingungen darf es nicht geben. Sonst beginnt der Überwachungsstaat. Und sie schnüffeln in unseren Schränken, ob wir irgendetwas dazuverdienen.

Heute reden alle nur vom Markt, der es richten soll …

Der Markt kann keine würdige und sinnvolle Gesellschaft organisieren. Die Mechanik des Marktes ist auf Ausgrenzung und Vernichtung des anderen gerichtet und nicht auf Zusammenarbeit, auf Kooperation. Solidarische Kooperation aber stand am Anfang der Gewerkschaftsbewegung. Diese Kernkompetenz müssen die Gewerkschaften nun zurückgewinnen. Was wir jetzt brauchen, ist die öffentliche Einmischung aller in ihre gemeinsamen Angelegenheiten. Gemeinsinn und Gemeingüter. Wir haben seit Jahrhunderten für die Befreiung des Menschen von Zwängen gearbeitet. Diese Emanzipation sollten wir als unser Eigentum betrachten. Und auf seiner Herausgabe durch die Besitzenden bestehen.

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OSKAR NEGT

«Wozu noch Gewerkschaften? » hat der deutsche Soziologe und Philosoph Oskar Negt in einem Buch 2004 gefragt, und diese Frage war Programm: Negt (75) stand zeitlebens tatkräftig und kritisch an der Seite der Gewerkschaften. Zum Beispiel in der Bildungsarbeit. Auch der Unia ist er verbunden – er kam mehrmals nach Biel, um mit Sekretären und Mitgliedern die Zukunft der Gewerkschaften zu diskutieren.

DENKER. Negt hat bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno studiert, war lange Assistent von Jürgen Habermas, schließlich Professor in Hannover. Zwei Dutzend Bücher hat er geschrieben, einige gemeinsam mit seinem Denkpartner, dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge. 2001 erschien Negts bahnbrechende Schrift «Arbeit und menschliche Würde» – 700 Seiten denkerische Aufrüstung für alle Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter.

Quelle: work, 29.04.2010